Info
Das von der Fritz Thyssen Stiftung großzügig für insgesamt drei Jahre (2011–2014) geförderte Projekt macht erstmals das Kernrepertoire Gregorianischer Offiziumsantiphonie in einer synoptischen Edition von Text und Musik zugänglich, die durch eine Wortkonkordanz, einen Bibelstellenindex und ein differenziertes Verzeichnis der liturgischen Verwendung erschlossen wird.
Die Datenbank verbindet zwei Ziele:
- Durch die synoptische Edition von Text und Melodie nach repräsentativen Handschriften erhält die Erforschung der mittelalterlichen Offiziumsantiphonie eine tragfähige Basis.
- Differenzierte Indices erschließen interaktiv das Repertoire von über 6.000 Stücken.
Gegenstand
Die Offiziumsantiphonen sind Kernstücke der Tagzeitenliturgie. Sie sind ein Schlüssel zum Verständnis der Psalmen und anderer biblischer Gesänge (Cantica); sie heben einen wichtigen Vers hervor oder ergänzen die Aussage in einer spezifischen liturgischen Situation durch einen anderen Text. Vor allem an Festen und in geprägten Zeiten sind die Antiphonen eine wichtige Quelle der Theologie und Spiritualität. Als Teil der ältesten erhaltenen europäischen Musik, die zudem bis heute gepflegt wird und in den letzten Jahren eine wahre Renaissance erlebt, stellen die Gregorianischen Antiphonen nicht nur ein bedeutendes Quellencorpus mittelalterlicher Liturgie dar, sondern gehören zum lebendigen Erbe abendländischer Kultur.
Das Offiziumsrepertoire ist gegenüber der populäreren Mess-Gregorianik vergleichsweise schlecht erschlossen. Eine verlässliche Edition der Melodien fehlt bislang genauso wie wissenschaftliche Hilfsmittel; es gibt keine Wortkonkordanz, und der einzige verfügbare Bibelstellenindex erschließt nur das Repertoire des nachtridentinisch reformierten Breviers.
Die Standardedition des Corpus Antiphonalium Officii (Hg. René-Jean Hesbert; Rom 1964–1979) beschränkt sich auf den Text; die Monumenta Monodica Medii Aevi (Hg. László Dobszay / Janka Szendrei; Kassel 1999) edieren die Melodien nur nach den relativ späten Handschriften einer vergleichsweise marginalen Region. Die CANTUS database (www.cantusdatabase.org) indiziert eine Fülle von Quellen, ist aber vornehmlich quantitativ orientiert.
Methode
- Synoptische Tableaus dokumentieren auf einen Blick die Varianten von Text und Melodie; signifikante Varianten werden dabei von Eigenheiten bestimmter Handschriften unterschieden.
- Die synoptische Edition des Textes verzeichnet orthographische Eigenheiten und echte Varianten des Textes in den verschiedenen Handschriften.
- Die der wichtigsten adiastematischen Handschrift (Antiphonale des Hartker, St. Gallen, Stiftsbibliothek 390/391) zugrundeliegende Melodie wird restituiert.
- Umfassende Suchfunktionen erschließen das Repertoire von insgesamt über 6.000 Stücken: lemmatisierte Wortkonkordanz (Suche nach Grundworten und bestimmten Formen), Bibelstellenindex, liturgische Verwendung, Modus, Ordnungsnummern bestehender Editionen.
- Scans der Handschriften ermöglichen den direkten Rückgriff auf die Quellen.
Relevanz
Die qualifizierte Erschließung eines Kernrepertoires abendländischer Liturgie und Musik stellt zahlreichen Disziplinen ein wichtiges Hilfsmittel zur Verfügung:
- Die Tagzeitenliturgie wird als Quelle der Theologie ernstgenommen.
- Die spirituelle Welt mittelalterlicher Liturgie wird wissenschaftlich nachvollziehbar.
- Der Gottesdienst wird als vornehmster Raum der Bibelrezeption methodisch zugänglich.
- Die biblischen Gesänge werden in die Geschichte des lateinischen Bibeltextes eingeordnet; besonders bei Stücken, die dem Psalter entnommen sind, können Rückschlüsse auf den Entstehungskontext gezogen werden.
- Die musikalische Struktur der Gregorianischen Gesänge wird erforschbar: Modologie, Semiologie, Centologie …
- Die stilistische Entwicklung der Gregorianischen Überlieferung und die Eigenheiten bestimmter Handschriften, Regionen und Epochen werden sichtbar.
Kontakt
Harald Buchinger
Lehrstuhl für Liturgiewissenschaft
Fakultät für Katholische Theologie
Universität Regensburg
93040 Regensburg
E-Mail: harald.buchinger@theologie.uni-regensburg.de
Personen
- Xaver Kainzbauer (Universität Mozarteum Salzburg) hat in jahrzehntelanger Arbeit eine Datenbank des Gregorianischen Kernrepertoires geschaffen, die dem Projekt zugrundeliegt; er verantwortet auch die Endredaktion der synoptischen Tableaus.
- Martin Kaiser bearbeitet die textlich liturgische Seite der Datenbank.
- Georg Wais arbeitet an den musikalischen Tableaus.
- Peter Zeillinger (Wien) hat die Projekt-Datenbank programmiert.
- Immanuel Bauer (Wien) hat die Web-Version programmiert.
- Studentische und Wissenschaftliche Hilfskräfte:
Veronika Bader, Manuela Engl, Adrian Rauch, Jasmin Schlotterbeck, Susanne Schwarzmüller, Johannes Steinbach, Johannes Stettner. - Koordination: Harald Buchinger
Quellen
Die synoptischen Tableaus erschließen 12 repräsentative Handschriften:
- H - St. Gallen, Stiftsbibliothek (CH-SGs) 390/391, erste Hand um 1000 („Antiphonale des Hartker“); Liturgietyp gemischt, bei Antiphonen im wesentlichen monastisch: wichtigste adiastematische Handschrift mit Tonar, prominenter Vertreter der sogenannten ostfränkischen Tradition
- Ka - Karlsruhe, Badische Landesbibliothek (D-KA) 60, olim Reichenau, ursprünglich Zwiefalten oder Peterhausen, Ende 12. Jh.; Liturgietyp monastisch: wichtigster diastematischer Vertreter der ostfränkischen Tradition
- MR - Antiphonale von Mont Renaud, 10./11. Jh., Text jedenfalls nach 920 (Privatbesitz); Liturgietyp prinzipiell monastisch, später für säkularen Brauch adaptiert: zweite wichtige adiastematische Handschrift, Vertreter der sogenannten westfränkischen Tradition
- Wc - Worcester, Library of the Dean and Chapter (GB-WO) F. 160, Mitte 13. Jh.; Liturgietyp monastisch: wichtiger diastematischer Vertreter unter dem Einfluß der westfränkischen Tradition
- T1 - Toledo, Biblioteca capitular (E-Tc) 44.1, 10./11. Jh.; Liturgietyp: gemischt, und
- T2 - Toledo, Biblioteca capitular (E-Tc) 44.2, Ende 11./Anfang 12. Jh.; Liturgietyp säkular: aquitanische Tradition mit wichtigen Varianten (Anfangston kurrenter Neumen häufig nicht notiert, sog. „initio debilis“, zugleich Tendenz zur Auffüllung von Durchgangstönen)
- Bv1 - Benevent, Biblioteca capitolare (I-BV) 19+20, 12. Jh.; Liturgietyp säkular,
- Bv2 - Benevent, Biblioteca capitolare (I-BV) 21, 12./13. Jh.; Liturgietyp monastisch, und
- Mc - Montecassino, Biblioteca Statale del Monumento Nazionale di Montecassino (I-MC) 542, 12. Jh.; Liturgietyp säkular mit monastischen Ergänzungen, bilden eine weitere Gruppe, die nicht selten der westfränkischen Tradition verwandt ist, häufig aber eine ornamentale Überwucherung der Antiphonen bezeugt, zugleich ein differenziertes Bild bietet.
- Lc - Lucca, Biblioteca capitolare (I-Lc) 601, 12. Jh.; Liturgietyp monastisch, ist eine Quelle voller Varianten, die aber nicht selten Feinheiten der adiastematischen Handschriften bestätigt.
- Fo2 - Paris, Bibliothèque nationale (F-Pn) lat. 12.044, ursprünglich Saint-Maur des Fossés, 12. Jh.; Liturgietyp monastisch: wichtiger Zeuge der einflußreichen cluniazenser Tradition.
- Zw - Zwettl, Stiftsbibliothek (A-Z) 399+402, Ende 12. Jh.; Liturgietyp monastisch/zisterziensisch, vertritt die zisterziensische Tradition, deren häufig unterschätzter Wert darin besteht, einen wichtigen Einblick in das Choralverständnis der 2. Hälfte des 12. Jhs. zu erlauben.
Für die Texte werden außerdem die weiteren 10 Leithandschriften des Corpus Antiphonalium Officii herangezogen.